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Gedenken zum 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung

Rede von Marion Schmager, stellvertretende Superintendentin

Die stellvertretende Superintendentin Marion Schmager hielt am 80. Gedenktag der Befreiung von Auschwitz die Hauptrede am Platz der ehemaligen Synagoge. Im Anschluss hatte das Bündnis für Toleranz zu einer Kundgebung unter dem Motto “Demokratie wählen”.

Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung der wenigen Überlebenden aus den Vernichtungslagern in Auschwitz vor 80 Jahren, gedenken wir der Verfolgten und Ermordeten des Holocausts und aller Opfer des Nationalsozialismus. Wir denken an die Überlebenden und ihre Nachkommen, die auch nach der Befreiung an ihren Verletzungen und Traumata sowie der späten und immer noch unzureichenden Aufklärung und Anerkennung dieser Verbrechen litten und bis heute leiden. Diese Gräuel und dieses Leiden soll dieser durch die Vereinten Nationen 2005 zum Internationalen Gedenken erklärte Tag vor dem Vergessen bewahren.

„Nie wieder!“ Das bedeutet auch, dass Jüdinnen und Juden ohne Angst vor Verfolgung und Ermordung leben sollen. Die Massaker der Hamas in Israel im Oktober 2023, die weitverbreitete Gleichgültigkeit und die Anfeindungen weltweit gegen Jüdinnen und Juden haben ihr Sicherheitsgefühl schwer erschüttert. Antisemitismus ist nie nur das Problem der anderen. Antijüdische Haltungen finden wir überall, auch in der Mitte der Gesellschaft, nicht selten verpackt in Israelfeindschaft.

„Nie wieder!“ haben wir all die Jahre am 27. Januar beschworen. Wir haben allen Grund, das zu präzisieren: „Nie wieder ist jetzt!“ Es ist höchste Zeit, dass jede und jeder Farbe bekennt und sich bewusst macht, dass Demokratie, eine offene Gesellschaft, ein Rechtsstaat nicht selbstverständlich sind, sondern auf das tägliche Engagement aller Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz ist eine Lehre aus Nazidiktatur und Holocaust. Dieser Satz ist das Fundament, auf dem unsere Demokratie steht. Dieser Satz war über Jahrzehnte Grundkonsens aller politischen Kräfte in den Parlamenten unseres Landes. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es gibt Kräfte, die an diesem Fundament rütteln. Kräfte, die Unterschiede machen zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern. Kräfte, die Unterschiede machen zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Kräfte, die Menschen aus unserem Land deportieren wollen. Kräfte, die heute leider in den meisten Parlamenten sitzen. Auch wenn die Feinde der Demokratie demokratisch gewählt sind, sind sie noch lange keine Demokraten.

Hitler nannte damals das Judentum das Gewissen der Welt. Das war für ihn Grund genug, zu versuchen, das Judentum auszurotten. Der Gott der Bibel hat das versklavte jüdische Volk zum auserwählten Volk erklärt, in die Freiheit geführt und ihm die Zehn Gebote anvertraut, die zu den Grundlagen des Christentums und der westlichen Zivilisation gehören. 

Mit ihrer Ideologie vom absoluten Recht des Stärkeren zerstörten die Nationalsozialisten bewusst die Grundlagen dieser Zivilisation. Sie ersetzten die biblisch inspirierte Ethik des Respekts, der Solidarität und der Fürsorge durch eine – so wörtlich – „Ethik des Raubtiers“. Das Tötungsverbot war ihnen nicht heilig. Zum Wesenskern des Nationalsozialismus gehörten das eigenmächtige, willkürliche Einteilen in „lebenswertes“ und „lebensunwertes“ Leben und – als Konsequenz – das schließlich geradezu gierige Vernichten von Menschen.

Wie konnte es so weit kommen? 

Das Schlimme war ja, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung bei der Verfolgung von Minderheiten, politischen Gegnern und dann beim Völkermord an Jüdinnen und Juden, die einst womöglich Nachbarinnen, Arbeitskollegen, behandelnde Ärzte oder der Lebensmittelhändler ein Straße weiter waren, tatenlos weggeschaut, geschwiegen – oder gejubelt hat.

Stefan Zweig, österreichischer Schriftsteller, der 1934 ins Exil nach Brasilien floh, stellte sinngemäß fest: „Der Nationalsozialismus hat sich vorsichtig, in kleinen Dosen, durchgesetzt – man hat immer ein bisschen gewartet, bis das Gewissen der Welt die nächste Dosis vertrug.“

Und heute? In immer mehr Ländern werden Menschenrechte mit Füßen getreten und die Grundpfeiler der Demokratie eingerissen: Die Unabhängigkeit der Justiz und die freie Meinungsäußerung. Immer unverhohlener, lauter und brutaler artikuliert sich menschenverachtender Rassismus und Antisemitismus. Viel zu lange wollten wir in Deutschland das alles nicht so recht wahrhaben. Jetzt ist es Zeit aufzuwachen. Denn das, was rechtsextreme Zirkel und Kreisel unter dem Titel „Remigration“ mit Migranten machen wollen, das ist keine billige Propaganda, das ist brutaler Ernst ohne Rücksicht auf Verluste. Völkische Ideologie verkleidet in Bürokratensprech. Schon wieder. Beklatscht von immer mehr Menschen.

Wer sich erinnert, sieht auch die Bedrohungen unserer Zeit klarer. Einen Schlussstrich unter das schreckliche Geschehen des Holocausts darf es nicht geben, weil das gleichbedeutend mit Vergessen wäre. Und wer vergisst, der ist in steter Gefahr, die Geschichte zu wiederholen. 

Immer offensichtlicher ist doch, wie rechtspopulistische Parteien mit allen Mitteln versuchen, das Vertrauen in unsere Demokratie zu zerstören. Mit billiger Stimmungsmache, Polemik und Verschwörungsmythen, etwa dem vom großen Austausch. Sie machen das, was in Krisenzeiten schon immer gang und gäbe war. Sie suchen nach Schuldigen und machen Stimmung gegen sie. Gegen Flüchtlinge und Migranten, gegen die etablierten demokratischen Parteien, gegen die EU und gegen unsere freien und kritischen Medien. Gegen Jüdinnen und Juden. 

Was in der Politikwissenschaft als Rechtsruck bezeichnet wird, ist, wenn das Gewissen der Welt menschenrechtsbedrohende Forderungen und Einstellungen einfach hinnimmt. 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz gehört zu den ins Säkulare übersetzten Essentials des jüdisch-christlichen Erbes. Wer gegen den Antisemitismus kämpft, kämpft für eine Zivilisation, die imstande ist, die Würde des Einzelnen zu schützen und zu garantieren.